#Zeitreise: "Ich habe über 120 Katastrophen geregelt"
Das BRK Zeitzeugenprojekt hält den wichtigen Wissensschatz von Zeitzeug*innen für die Nachwelt fest. In #Zeitreise erzählen wir von den Geschichten ausgewählter Zeitzeugen. In dieser Episode sprechen wir mit Rudolf Cermak. Er war fast sein ganzes Berufsleben lang beim Bayerischen Roten Kreuz. Als Katastrophenschutzbeauftragter, Leiter des Landesnachforschungsdienstes, als Abteilungsleiter Rettungsdienst, in der Leitstelle, Beschaffungsstelle - um nur einige seiner Stationen zu nennen. Warum er das Rote Kreuz für eine der besten Organisationen der Welt hält und welche Abenteuer er in seiner Zeit erlebt hat, verrät er uns im Interview.
Lieber Herr Cermak – können Sie uns kurz ein paar Eckpunkte über sich verraten und auch, wie sie zum Bayrischen Roten Kreuz gekommen sind?
Ich bin 1956 in München geboren und zur Schule gegangen. Danach hab ich eine Lehre als Dekorateur bei der Firma Kaufhof am Stachus begonnen. Ab dem zweiten Lehrjahr machte ich einen Erste-Hilfe-Kurs und ich wollte dann weitermachen. Ich hab dann beim Arbeiter-Samariter-Bund eine Sanitätsausbildung begonnen. Beim ersten Treffen, sollte ich einen Krankentransport fahren. Ich hab einen weißen Kittel bekommen und bin natürlich stolz wie ein Pfau da in dem Auto drin gesessen. Der ASB wollte mich dann auch als hauptamtlichen Mitarbeiter haben. Ich habe dann eine umfangreiche medizinische Ausbildung gemacht, bin 1974 hauptamtlich eingestiegen und war bis 1978 beim Arbeiter-Samariter-Bund.
1978 ist dann in München die damals hochmoderne Rettungsleitstelle München eröffnet worden in neuen Räumen des BRK-Kreisverbands München. Und um das paritätisch zu besetzen wurden Mitarbeiter der Malteser, der Johanniter und vom ASB mit in dieses Personalpanel übernommen - und der vom ASB war ich. Ich habe mich da mit 22 Jahren beworben, bin fünf Jahre im Rettungsdienst gefahren und 1978 hauptamtlich in die neue Rettungsleitstelle gewechselt. Mit dem Dienst in der Leitstelle begann meine BRK-Zeit, ich war 42 Jahre dabei.
Und wie sah denn damals der Alltag in der Rettungsleitstelle aus? Es gab wahrscheinlich weniger Technik als heute, wie war der Standard und Stand der Dinge?
Ab 1978 haben wir die Datenerfassung schon EDV-mäßig vorgenommen, allerdings zunächst alles händisch erfasst. Es gab weißen Zettel für den Krankentransport und rote Zettel für Notfalleinsätze. Die Zettel sind über das Förderband zum Funksprecher gelaufen, gestempelt worden mit Uhrzeit und Auftragsnummer. Das war das amtliche Dokument für diesen Einsatz.
Es gab damals die Frühschicht, Spätschicht und Nachtschicht, es gab insgesamt elf Funktische in dieser alten Leitstelle, die also wochentags mit sieben, acht Leuten besetzt waren. Wir haben also durchgewechselt, einmal hat man den Funktisch München gemacht und bei der nächsten Schicht hat man dann den sogenannten „Landfunk“ gemacht - Freising, Erding und Ebersberg.
Das war ein großer Bereich für fünf Leute pro Schicht. Und wann haben Sie dann aufgehört in der Leitstelle?
Ich habe 1986 aufgehört in der Leitstelle, habe mir gedacht, ich habe viele Jahre Schichtdienst gemacht und bin letztendlich dann in der Beschaffungsstelle in der Holbeinstraße gelandet und habe mit zehn Mitarbeiter*innen Medizinprodukte verkauft. Das war schön, da hatte ich also einen ganz normal geregelten Dienstablauf von Montag bis Freitag, konnte Samstag, Sonntag auch wieder bei meiner Familie sein, konnte auch mein Sozialleben ein bisschen intakt bringen. Und scheinbar habe ich mich gar nicht so dumm angestellt, jedenfalls kam der Abteilungsleiter und sagte zu mir: "Sie machen doch auch Computer." Wir haben dann ein Vertriebsverzeichnis unserer Produkte gemacht und haben das EDV-mäßig erfasst. Wieder ein Jahr später kommt der Abteilungsleiter Rettungsdienst, und sagt: "Sie, Herr Cermak, wollen Sie nicht Leitstellenleiter in Aschaffenburg werden?" Sage ich: "Da müssen Sie mir jetzt schon ein bisschen Zeit lassen, weil ich bin ja echter Münchner und fast nach Hessen rauf ist schon ein bisschen weit. Dann sagt er: "Ich hätte noch was anderes: Wollen Sie nicht Leiter vom Landesnachforschungsdienst werden?" Ich wusste nicht, was das ist.
Was macht der Landesnachforschungsdienst?
Familienzusammenführung zum damaligen Zeitpunkt. Es wurden immer noch Vermisste aus dem Zweiten Weltkrieg gesucht. Es gab 199 Bildbände mit Portraitfotos und Feldpostnummern. Dann hat man gesagt, okay, im Kessel von Tscherkassy an diesem Datum ist Herr Meier verstorben. Und die Angehörigen haben dann eine Bestätigung des Roten Kreuzes gekriegt, dass am 22. August 1944 bei diesen Kampfhandlungen, die dort stattgefunden haben, der Soldat gefallen ist. Und mit diesem Rotkreuz-Nachweis sind sie dann zur Rentenstelle gegangen und haben als Ehefrau mit diesem Beleg Rente gekriegt. Dann haben wir immer wieder sogenannte Feldpostpäckchen bekommen mit Medaillons, Bildern, Kleingeld. Die mussten wir dann zuordnen und den Leuten in Deutschland zustellen. Und es gibt ein sogenanntes Karteibegegnungsverfahren. Die Leute haben nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Angehörigen gesucht, und eine sogenannte Suchkarte eingegeben. Wenn sie Glück gehabt haben, hat die Familie schon vorher eine Karte ausgefüllt, eine sogenannte Stammkarte. Und wenn beim Karteibegegnungsverfahren die Suchkarte auf die Stammkarte getroffen ist, waren sie wieder vereint und glücklich.
Mich wundert es, dass man das damals nicht auch schon mit irgendwie digitalen oder elektronischen Mitteln bemacht hat.
Ich hab mich privat mit Computern beschäftigt, weil mir das immer gefallen hat. Ich dachte mir: Dieses Karteibegegnungsverfahren muss man doch auch elektronisch hinbringen. Und dann habe ich ein kleines Programm geschrieben und das hat sich ohne mein Zutun weiterentwickelt. Xenios heißt eines dieser Programme, das diese Dinge völlig automatisiert macht. Und dann war ich als sehr junger Mensch in diesem altehrwürdigen Suchdienstgremium, wo wirklich honorige Personen waren, wie zum Beispiel der Direktor vom Suchdienst in Deutschland und da war ich natürlich sehr stolz. Ich bin 1986 da in den Landesverband, dann in die Dienststelle übergesiedelt, bis 1988 war ich da bei der Beschaffungsstelle, von 1988 bis 1994 war ich dann der Leiter des Landesnachforschungsdienstes und hab ab 1994 diese ganzen Grenzöffnungen mitgemacht. Ich war in der Zeit ungefähr 20 mal in Russland, wir haben Hilfsgüter rübergefahren. In Kiew war ich fünf oder sechs Mal. Ich kam bis Sibirien, in Omsk, in Nowosibirsk. Das war eine interessante Zeit.
Was wurde da geliefert?
Wir haben Infusionen, Verbandszeug, Medikamente geliefert, aber auch CTs. Wir haben Amputierte, zum Beispiel, mit künstlichen Beinen oder künstlichen Armen versorgt – gemeinsam mit einem Orthopädiemechaniker. Wir kamen bis nach Rumänien, dort wo Ceaușescu zum damaligen Zeitpunkt auch Terror verbreitet hat, bis nach Jugoslawien zum Konflikt mit Kroatien und Bosnien-Herzegowina und Serbien. Dort sind auch beschossen worden. Wir sind da im Sturzflug nach Sarajewo nachher und haben zehn Tonnen Medikamente ausgeladen und wieder im Steilflug raus. Es war eine abenteuerliche Zeit, ich war damals schon verheiratet, habe zwei Kinder gehabt. Es hat kein Handy gegeben im weitesten Sinne, ich habe nicht anrufen können und sagen können, ich komme wieder. Dadurch bin ich aber auch zu meiner nächsten Station gekommen.
Welche war das?
Unser Landesgeschäftsführer, der Heinrich Hiedl damals, ist auf mich aufmerksam geworden und ich bin 1994 sein persönlicher Referent geworden. Dort habe ich dann auch meine ersten politischen Kontakte geknüpft. Dann ist der Herr Hiedl in Rente gegangen und der Nachfolger war Herr Wagner. Dann kam der Herr Fischer. Ich hab damals eine Landesvorstandssitzung vorbereitet, da kommt die Monika Hohlmeier, sagt: "Der Leiter der Bereitschaften geht in Rente, wäre das nichts für Sie?“ Und dann bin ich 1999 Geschäftsführer der Bereitschaften und Katastrophenschutzbeauftragter geworden. Es gab 1999 eine Riesenüberschwemmung in Bayern, in 16 Landkreisen wurde der Katastrophenfall erklärt. Insgesamt habe ich übrigens 120 Katastrophen in diesen 20 Jahren geregelt. Vom Hochwasser in Dresden, da wo das wirklich die Elbe aus der Semperoper rausgelaufen ist. Und ab 2003 haben wir uns um die Fußballweltmeisterschaft 2006 gekümmert, haben große Kontingente zusammengestellt. Und haben daraufhin auch in Bayern mit der Ausbildung dieser Leute begonnen, die dann 2006 in den Einsatz kommen. Also wir haben in den fünf Bezirksverbänden letztendlich Schulungen abgehalten. Auch auf Basis vom Oktoberfest-Attentat, weil man da eben schon eine gewisse Erfahrung gehabt hat.
Und 2008 kam der Papst zu Besuch und die Europameisterschaft in Österreich fand statt. Wir habe im Rathaus in Wien einen Behandlungsplatz aufgebaut. Wir sind auch im Iran und der Türkei bei Erdbeben zum Einsatz gekommen. In den Iran haben wir Rettungshundestaffeln geschickt. Der Hund schlägt normalerweise nur an, wenn er einen Überlebenden findet. Und plötzlich hat der Hund angeschlagen und die haben zu buddeln angefangen und haben dann eine tote Frau rausgezogen. Und sich gewundert: „Das gibt es ja nicht. Der Hund schlägt nicht bei einer Leiche an.“ Dann haben sie weiter gebuddelt, haben die tote Frau raus und da war unter der toten Frau deren Kind und das hat noch gelebt. Solche Sachen waren auch an der Tagesordnung. Im Iran haben wir sogar später die Ausbildung eigener Rettungshundestaffeln übernommen. Dann haben wir einen großen Tsunami gehabt in Thailand, wenn sie sich erinnern können. Da haben wir dann sofort Notärzte und Rettungsassistenten rübergeschickt, die die deutschen Urlauber repatriieren. Die hatten schreckliche Verletzungen zum Teil, weil in dem Tsunami Wellblechdächer mitgeschwommen sind und Gliedmaßen abgetrennt haben.
Und Sie waren dann auch immer mit vor Ort?
Ich war der Leiter und nicht mehr vor Ort. Ich bin bei der Weltmeisterschaft selbstverständlich vor Ort gewesen, aber bei solchen Einsätzen habe ich immer die rückwärtige Einsatzleitung gehabt. Ich habe also den Stab im Präsidium geleitet und die Landesgeschäftsstelle.
2014 bis 2017 war ich dann auch noch tätig im Stab des Sozialministeriums, die Flüchtlingsbewegungen aus Syrien zu lenken. Ich war drei Jahre mehr oder weniger mit dieser Geschichte beschäftigt, teilweise sind 200.000 Menschen in einem Monat gekommen. Einmal sind 800 Menschen aus Syrien in Leipzig angekommen, am Bahnsteig standen ungefähr 100 Leute mit Knüppeln, mit Baseballschlägern. Dann hat man den Zug gar nicht geöffnet, sondern ist nach Berlin weitergefahren. Also wir haben schon ziemlich viel erlebt in der Zeit.
2016 ereignete sich das Attentat im Olympia-Einkaufszentrum. Dort hat ein Verrückter neun Leute umgebracht, es gab einige Verletzte. Wir haben um München rum große Kontingente aufgebaut und waren insgesamt mit 1.100 Mann im Ring verteilt, im Landkreis. Augsburg, Dachau, Freising, Starnberg sind reingefahren.
Und wie ging es dann weiter?
Kurz vor Beginn der Pandemie bin ich in den Ruhestand gegangen. Mir ist aber jetzt auch nicht langweilig, weil ich politisch tätig bin. Ich war schon vor meinem Ausscheiden seit 2014 im Bezirksausschuss 2, Fraktionsvorsitzender der CSU. Ich setze mich für 52.000 Bürger ein. Weil ich nicht von 100 auf null gehen kann.
Wie blicken Sie auf die Zeit beim BRK zurück?
Ich kann nur sagen, dass ich die 42 Jahre beim Roten Kreuz wirklich in bester Erinnerung behalte, das war der Großteil meines Lebens. Ich möchte das Rote Kreuz nie vermissen, werde ihm auch immer die Stange halten und halte es für eine der besten Organisationen, die es auf der ganzen Welt gibt, auch wegen unserem weltweiten Netz, mit dem wir zusammenarbeiten. Das hat mich geprägt und das hat mir immer Spaß gemacht.